Jürgen Morgenstern-Feise

DAS GROßE HEFT
nach dem Roman von Ágora Kristóf

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Foto: Olivia Pum
Spiel :
IMMER BECCARD
ELISABETH FRANK
LAURA POHL
Regie :
HARALD SCHANDRY
Regieassistenz :
OLIVIA PUM
Bühne & Kostüm :
ULRIKE SCHÖRGHOFER
Musik :
JÜRGEN MORGENSTERN
Zwei Brüder, Zwillinge, wachsen auf in kriegerischen Zeiten, reifen hinein in die Erfordernisse ihrer garstigen Umgebung. Auf den flehentlichen Wunsch ihrer Mutter bietet die verschrobene Großmutter eine karge Überlebensgrundlage. „Zuneigung“ findet darin keinen Platz. Sie sorgt für das zum Überleben Notwendigste, verweigert aber ihren Enkeln jegliches Gefühl von Geborgenheit. Die Zwillinge sind ununterscheidbar „wir“. Mit wacher Neugier beobachten sie die Geschehnisse der Erwachsenenwelt, sind angetrieben von einem nie versiegenden Wissensdurst. Sie wollen die Welt, auch die, in der der Mensch des Menschen Wolf ist, erfassen. Alle Beobachtungen werden von ihnen akribisch in ihr „Großes Heft“ eingetragen. Sie erlegen sich gegenseitig „Übungen zur Abhärtung des Körpers“ auf, ebenso „Übungen zur Abhärtung des Geistes“, zuletzt erweitern sie ihr Spektrum um die „Übung in Grausamkeit“. Sie fallen durch einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn auf. Sie stehen, wenn es ihrem Überleben nicht entgegensteht, Schwächeren ohne großes Gerede bei. Ihre Versprechen werden gehalten.
Am Ende der Geschichte schicken sie ihren überraschend auftauchenden Vater wissentlich in ein Minenfeld. Nach der hörbaren Explosion riskieren sie das Unmögliche: aus „wir“ wird „ich“ und „ich“. Einer nutzt das durch den Vater geopferte frei gesprengte Minenfeld um ins Nachbarland zu fliehen. Der Andere bleibt zurück.

HAZ vom 30.9.2020:
Übungen im Überleben
Das Klecks-Theater erzählt in dem Stück „Das große Heft“ von der Kindheit in Zeiten des Krieges
VON JULIANE MOGHIMI
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Eine ganz normale Familie: Szene aus „Das große Heft“ am Klecks-Theater. Foto: Olivia Plum
Seelische Gewalt, körperliche Gewalt, extreme Vernachlässigung und sexueller Missbrauch: Es gibt fast nichts, das diesen Zwillingsbrüdern erspart bleibt. Dabei hat ihre Mutter sie vorsorglich aus der großen Stadt weggebracht, wo die Bomben fallen und es nichts mehr zu essen gibt.
Die Großmutter in der kleinen Stadt möge sich um ihre Enkel kümmern, bis der Krieg vorbei ist, fleht die Mutter – und diese lässt sich schließlich widerwillig darauf ein. Als Arbeitskräfte taugen die „Hundesöhne“, wie sie sie nennt. Dafür gibt es gerade so viel zu essen, wie die Jungs zum Überleben brauchen, und sonst nichts.
„Das große Heft“, von Regisseur Harald Schandry nach der Romanvorlage der ungarisch-schweizerischen Autorin Ágota Kristóf auf die Bühne des Klecks-Theaters gebracht, ist nur äußerlich ein Stück über den Krieg und darüber, was dieser auch mit der Zivilbevölkerung macht. Auf psychologischer Ebene handelt es sich um eine Studie über den Umgang mit Traumata. Die namenlosen Zwillinge flüchten sich in einen Zustand der Dissoziation.
Die wissensdurstigen Kinder lernen zu beobachten und zu beschreiben, ohne dabei zu fühlen. Um die Schläge und die Erniedrigungen besser aushalten zu können, erlegen sie sich selbst Übungen zur Abhärtung von Körper und Geist auf. Lügen, Stehlen, Erpressen und schließlich Töten bilden ihr Repertoire von Überlebensstrategien. Und doch haben sie ihre ganz eigenen Moralvorstellungen und Prinzipien und stehen Schwächeren bei – solange es ihrem eigenen Überleben nicht im Weg steht.
Elisabeth Frank spielt diese Zwillinge eindringlich zusammen mit einer Puppe, die mehr eine Fratze als ein Gesicht hat. Sie spricht und handelt für beide – ein kluger Regieeinfall, denn so wird die psychologische Deutungsebene des Romans noch stärker ausgeleuchtet: So lässt sich der Kontrast zwischen der Schauspielerin und der kaum menschlichen Visage auch als innere Spaltung des Kindes lesen, das vielleicht – aber das bleibt offen – am Ende doch gar kein Zwilling war.
Packendes Gesamtkunstwerk
Neben Elisabeth Frank spielen Imme Beccard und Laura Pohl jeweils mehrere Rollen: Von der liebenden Mutter zum brutalen Soldaten (Pohl), von der hartherzigen Großmutter zum pädophilen Pastor (Beccard) reicht das Spektrum der beiden Darstellerinnen – und man nimmt ihnen all das ab. Zu der beklemmenden Atmosphäre tragen auch das karg gehaltene Bühnenbild und die stimmigen Kostüme von Ulrike Schörghofer bei.
Der Improvisations-Musiker Jürgen Morgenstern sorgt mit allen möglichen und unmöglichen Instrumenten vom Kontrabass bis zur singenden Säge für eine atmosphärisch dichte Klangkulisse. So gelingt dem Ensemble ein emotional packendes Gesamtkunstwerk, das den Zuschauer auch nach dem Ende der Vorstellung nicht so schnell wieder loslässt.
Die nächsten Vorstellungen beginnen vom 30. September bis 2. Oktober täglich um 10 Uhr im Klecks-Theater, Kestnerstraße 18. Das Stück ist für Zuschauer ab 16 Jahren empfohlen.

magaScene 12/2019:
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